Der Wachtposten der Murmeltier-Kolonie macht auf einem vorgeschobenen Felsenbuckel Männchen. Das putzige Tierchen pfeift so schrill und aufgeregt wie es nur die braun bepelzten Burschen hinbekommen. Einige hundert Meter weiter sonnt sich derweil der Clan-Chef auf einem Felsen. Seelenruhig lässt sich das 60 Zentimeter lange und gut und gerne fünf Kilo schwere „Monster-Mankei“ die wohlig warme Septembersonne auf den Pelz brennen. Und das obwohl hoch oben am Flaggentuch blauen Himmel ein Adler seine Kreise über den Felswänden und Almwiesen unter ihm zieht. Der bärtige Senner schenkt mir frische Kuhmilch ein und erklärt mir, dass es sich bei dem Raubvogel um einen Jungadler handelt und dem „dicken Brackel“ keine Gefahr von oben droht.
Dennoch wird es dem pummeligen Pascha bald an den Pelzkragen gehen. Der Senn lächelt hinterlistig und meint, dass er ihn noch diesen Herbst „entnehmen“ wird, damit die jungen Männchen eine Chance bei der Bau-Balz haben und so die genetische Basis des Clans verbreitern. Und, so ergänzt der vollbärtige Alp-Öhi verschmitzt, weil sich seine ausgeprägten Fettpölsterchen zu Murmeltiersalbe verarbeiten lassen: „So ein fetter Brocken, das rentiert sich.“ Das Paradies der Murmeltiere liegt auf der Wörndleloch-Alm zu Füßen der wild gezackten und wie ein schartiges Krokodilgebiss gezahnten Geislerspitzen auf 2150 Meter. Im hintersten Eck des Villnößer Tales. Die Südtiroler Gemeinde Villnöß ist die Heimat von Reinhold Messner. Über die Menschen seiner Bergheimat schrieb die lebende Bergsteigerlegende einmal: „Die Welt war nicht größer als dieses Tal. Man ging auf die Almen, um Heu zu holen. Weiter ging man nicht.“ Messner ist weit darüber hinaus gegangen und er hat es weit gebracht.
Messner lebt schon lange nicht mehr hier. Er hat das Tal vor Jahren verlassen, um als Grenzgänger in der Vertikalen nach neuen Horizonten zu suchen, um als erster Mensch seine Fußstapfen auf unberührtes, jungfräuliches Gebiet zu setzen. Ein Neil Armstrong der Alpen, der Anden, des Karakorum. Er durchkletterte die steilsten Wände, bestieg die höchsten Himalaja-Gipfel, einen Achttausender nach dem anderen. Rund 100 technisch äußerst schwierige Erstbegehungen buchte er auf sein Bergkonto. Auf seinen Alleingängen und Extremexpeditionen setzte der Südtiroler mit der charakteristischen Yeti-Frisur neue Maßstäbe in den Todeszonen der Erde, in den Bergen und in den Polregionen. Begonnen hat er seine „Mission“ als Felskletterer in den heimischen Dolomiten. Die markanten Geisler-Gipfel, die schwindelerregenden Nordwände des Sas Rigais, der Furchetta oder der Großen und Kleinen Fermeda standen schon dem kleinen Knirps aus dem winzigen Weiler Pitzak vor Augen.
Mit zielstrebiger Besessenheit und unbändiger Willenskraft hat er die Grenzen des Erreichbaren nach oben verschoben, um danach in den abweisenden Eis- und Sandwüsten des Planeten das ultimative Abenteuer zu suchen: Er durchquerte die vom Wind gepeitschten Einöden der Antarktis. Er durchstreifte die unendlichen Weiten der Wüste Gobi. Ein Derwisch der Dünen. Auf seinen Extratouren bewegte er sich auf dünnem Eis, balancierte auf Messers Schneide, baumelte sein Leben am seidenen Seil. Messner praktizierte und propagierte ein „Leben am Limit“, ein Leben ohne Rückversicherung und doppelten Boden. Einer, der die dünne, halluzinogene Höhenluft tief inhalierte und mit dem man, so einer der Bergbauern mit denen ich auf meinen Wanderungen durchs Tal ins Gespräch kam, „immer gut auskommen konnte.“
Es gab andere, gute Bergsteiger und Extremsportler vor und nach Messner. Doch keiner hat es verstanden, sich so extrem gut zu vermarkten wie der Mann aus Villnöss. Er rückte seine grenzwertigen Erfahrungen ins Licht der Projektoren, schrieb mit sicherer Feder über 50 Bücher, war auf den Titelbildern von Outdoor- und Lifestyle-Magazine zu sehen und mimte vor der Kamera den Mann der Berge. Dabei ließ er nie einen Zweifel daran, dass er kompromisslos seinen eigenen Weg geht. Ein Visionär, der ein Leben außerhalb der Komfortzone führt, der die Sehnsüchte eines bürgerlichen, in Alltagszwängen verhafteten Publikums kanalisiert und in Worte von prophetischer Kraft fasst.
Über den Friedhof des Hauptorts Sankt Peter mit seinen ehernen, still der Auferstehung harrenden Schmiedeeisen-Kreuzen schimmern die Geislerspitzen in der Abendsonne. Ein Farbenspiel von hypnotisch anmutender Anziehungskraft. Aussichten, die den Blick verengen und nach oben, hinauf zum Bogen der Berge, zur Kuppel des Himmels hetzen. Nach einem Tag, der mich mit schlafwandlerischer Trittsicherheit bergauf und bergab zum Kreuzjoch und endlich zur Alm der Murmeltiere eskortierte, sind beide „Extremitäten“, meine Beine und mein Kopf, müde. Wie auf Stelzen stakse ich über den unter den Sohlen meiner Bergschuhe knirschenden Kies und werde rasch fündig.
An der südlichen Kirchwand – gleich neben dem Eingangsportal – hängt das schmucklose Epitaph der Familie Messner an der kalkweißen Steinwand. Ein symbolträchtiges Bild. Heimat, so scheint mir in diesem klarsichtigen Moment, ist wohl das was am Ende übrig bleibt.
Dinesh Bauer
Hier noch ein paar Auszüge aus einem Interview das ich im Herbst 2004 auf Burg Juval mit Reinhold Messner geführt habe:
Bauer: Wie gehen Sie mit ihrem Image als Abenteurer und „Freigänger“ um?
Messner: Ich habe kein Image, ich habe eine Persönlichkeit. Ich bin kein Selbstdarsteller, der sich unter Zwang inszeniert und ständig an seiner Rolle feilt. Ich lebe mein selbstbestimmtes Leben und muss mir nicht selbst gerecht werden. Es ist klar, wer ich bin, für was ich stehe. Ich bin wie ein offenes Buch. Man kann darin über mein Leben, meine Unternehmungen lesen, man kann sich hier in Juval anschauen wie ich meine Umwelt gestalte. Ein Stück weit bin ich insofern so etwas wie ein öffentlicher Mensch. Wenn sich also jemand an meinem Weg, an meinen Zielsetzungen orientieren möchte, kann und will ich dagegen nichts aussetzen. Ich fühle mich jedoch in keiner Weise dazu verpflichtet, irgendjemand etwas vorzuleben oder als eine Art Identifikationsmuster missbraucht zu werden.
Bauer: In ihren Leben sind sie mit vielen extremen Erfahrungen konfrontiert worden. Welche Erlebnisse haben sich besonders tief „eingebrannt“?
Messner: Auf meinen Touren habe ich viele, starke Eindrücke gesammelt. Und diese Erfahrungen haben mich und meine Einstellung zum Leben ganz entscheidend geprägt. Die Schlüsselerlebnisse waren jedoch sicher die Ereignisse am Nanga Parbat, der Verlust meines Bruders Günther, die Extremerfahrungen an der Grenze zum Tod.
Bauer: Sie haben sich selbst oft als Grenzgänger bezeichnet – was verstehen Sie darunter?
Messner: Ich habe den Begriff Grenzgänger geprägt, um einen neuen, unverbrauchten Ausdruck zu erfinden, der mein Tun umschreibt. Der Begriff Abenteurer war in meinen Augen bereits damals zur leeren, verbrauchten Worthülse verkommen. Mittlerweile gilt ähnliches für den inflationär gebrauchten Begriff vom Grenzgang. Daher will ich dieses Wort eigentlich nicht mehr verwenden, bis jetzt ist mir jedoch noch kein anderer prägnanter Ausdruck für meine Aktivitäten eingefallen. Am „Grenzgang“ interessiert mich vor allem, wie sich das Verhalten des Menschen verändert, wenn er mit seinen Grenzen konfrontiert wird. Es gibt glaube ich niemanden der freiwillig an oder über seine Grenzen geht. Doch wenn ich mich meinem Limit nähere, die letzten Kraftreserven mobilisiere und der konkreten Möglichkeit des Sterbens ins Auge schaue, dann erfahre ich intuitiv etwas ganz Elementares über das Leben. Es stellt sich also die Frage: Was passiert mit mir, mit uns? Im kritischen Moment zählt allein der einzelne, seine Überzeugungskraft und sein Geist. Unter Extrembedingungen zerbrechen alle gängigen Verhaltensmuster. Es ist die mentale Kraft, der pure Überlebenswille, der einen weiter treibt. Der Berg ist dabei so etwas wie ein Gleichnis für Gefahr. Bergsteigen war und ist immer ein gefährliches Unterfangen. Es ist eine fatale Fehlentwicklung, dass man heute meint einen „Berg buchen“, oder einen „Abenteuerurlaub von der Stange“ kaufen zu können, ohne das geringste Risiko einzugehen.
Bauer: „Die Freiheit, aufzubrechen wohin ich will.“ Mit diesem leicht modifizierten Zitat von Hölderlin haben Sie eines ihrer Bücher betitelt. Ist der viel strapazierte, oft zur Freizeit-Freiheit heruntergewirtschaftete Begriff der „Freiheit“ eine Schlüsselstelle ihres Lebenswegs?
Messner: Bei Hölderlin heißt es im Original „Und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.“ Ich habe das leicht abgewandelt und somit aussagekräftiger für mich gemacht. Dazu muss ich vielleicht sagen, dass ich Hölderlin für einen der größten Lyriker halte. In seinem Gedicht spricht er davon, dass Freiheit mit Verantwortung einhergehen soll. Ich habe bewusst, dass „Ich“ eingesetzt, dass sich auch mit der letzten Konsequenz des Egoismus die Freiheit nehmen will. Wir sehen uns ja heute mit dem Problem konfrontiert, dass keiner mehr Verantwortung übernehmen will. Das habe ich ganz stark in meiner Zeit als Europaparlamentarier der Grünen gespürt. Die Menschen haben das Vertrauen in die Politik verloren, stehlen sich selbst aber genauso aus der Verantwortung. Ich kann das verstehen: Nirgends wird so viel geschwätzt wie in der Politik. Es wird am grünen Tisch entschieden, irgendwelche Verordnungen erlassen ohne die Gegebenheiten draußen, also zum Beispiel bei den Bergbauern zu verstehen.
Bauer: Sie sind am Dorf in einer Großfamilie mit acht Geschwistern aufgewachsen. In wie weit hat Sie dieser familiäre Hintergrund geprägt?
Messner: Die Familie ist der Kern, die Basis des Seins. In unserer Gesellschaft hat man jedoch aus falsch verstandenem Individualismus heraus die Familie ihrer Funktionen beraubt. Daraus resultieren massive Probleme: Das Zerbrechen des sozialen Gefüges, die Vereinsamung im Alter, der Bankrott der staatlichen Rentensysteme. Die Familie birgt ja nicht nur ein emotionales, sondern auch ein gewaltiges, praktisches Potenzial in sich. Das Hauptproblem unserer westlichen Welt liegt darin, dass sie nicht für die Familie gemacht ist. Ich bin in Pitzak, einem winzigen Ort im Villnößtal, aufgewachsen. Jeder hat hier jeden gekannt. Wegen uns Kindern ist es daheim schon rein räumlich oft sehr eng zugegangen. Ich möchte also kein nostalgisch, verklärtes Bild meiner Kindheit zeichnen oder behaupten, dass ich die Enge genossen hätte. Aber ich bin in einem behüteten Nest aufgewachsen. Und daran hat sich eigentlich bis heute nichts geändert. Mein Vater und meine Mutter sind zwar beide schon gestorben, aber die ganze Messner-Familie hält bis heute eng zusammen. Da gibt es starke Bindungen. Notfalls könnten alle bei mir auf dem Schloss unterkommen. Platz genug ist da. Und wenn ich mir meine Geschwister und ihre jeweiligen Familien so anschaue, bietet sich eigentlich ein ziemlich harmonisches Bild.
Bauer: Zusammen mit Hans Kammerlander haben Sie eine Art Standortbestimmung versucht und sind – im wahrsten Sinn des Wortes – als „Grenzgänger“ rund um Südtirol gewandert. Welchen Stellenwert hat die „Heimat“, hat Südtirol für Sie?
Messner: Heimat ist für mich so etwas wie der erweiterte Kreis der Familie. Hier stößt man auf Menschen, die ähnliche Erfahrungen wie man selbst gemacht, die irgendwo aus derselben Quelle schöpfen. Ich habe mich anlässlich meines 60. Geburtstags mit meiner alten Schulklasse getroffen und ich habe mich ernsthaft gefragt, ob es vielleicht nicht „vernünftiger“ gewesen wäre, in unserem Tal zu bleiben. Denn ich habe an meinem alten Schulkameraden gesehen, dass man auch ohne „Auszubrechen“ hier ganz gut leben kann. Mit der bergsteigerisch nicht übermäßig schwierigen Tour rund um Südtirol haben ich und Hans Kammerlander eine metaphorische Standortbestimmung unternommen. Wir haben unser kleines „Landl“ umwandert, um hinabzuschauen ins Tal und uns als Südtiroler zu fragen, welchen Platz wir in einer globalisierten Welt einnehmen, wie wir unsere kulturellen Eigenarten bewahren können.
Bauer: Vielen Dank für das Gespräch.
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