Das Berchtesgadener Land ist einer der touristischen Hot Spots der bayerischen Alpen. Schon seit weit über 100 Jahren. Die Herrscher aus dem Haus Wittelsbach und der erste Mann des Dritten Reichs wussten das von Gebirgszügen umrahmte arkadische Idyll zu schätzen. Mittendrin im Kalkweiß der Gipfel und dem Grün der Wälder eine königsblaue Perle: der Königssee. An schönen Sommer- oder Herbsttagen tummeln sich hier Abertausende von Ausflüglern und Sommerfrischlern aus aller Welt. Wenn nicht gerade die Angst vor einem hoch ansteckenden Virus die Sonnendecks, Picknickplätze und Brotzeitstüberl leer fegt. Zwischen Berchtesgaden, Ramsau und Sankt Bartholomä ist die große Stille im Auge des Orkans eingekehrt. Wie damals in der dritten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Felsen und Forsten noch nicht von einer Armada von Outdoor-Aktivisten im passenden Fleece- und Softshell-Look überschwemmt waren. Eine Zeit, in der Waidmänner und Wildschützen in Loden und Leder durch die unwirtliche Wildnis pirschten – und es Gams statt Goretex to Go hieß.
Die Geschichte um die es hier geht, spielt vor der himmelstrebenden Kulisse der Wände des Watzmanns, hoch droben auf den Alm- und Alpflächen auf der anderen Seeseite. Der Schauplatz des dramatischen Geschehens: die Regen-Alm. Ein abgelegener Platz oberhalb des Obersees. Die auf 1540 Meter Höhe gelegene Hochalm wurde dem Sommer über beweidet, von rund 40 Mutterkühen und Kälbern, aber auch von zwei Pferde und drei Ochsen. Neben dem Kaser, einem im 18. Jahrhundert errichteten, in eine Mulde geduckten Blockbau, ließ König Maximilian II. 1848 eine Hofjagdhütte im rustikalen Alpin-Stil erbauen. Beide Bauten stehen heute unter Denkmalschutz. Die Regen-Alm ist einzig über den steilen Kaunersteg von der Salet-Alm an der Südspitze des Sees oder von Norden her über einen sich endlos durch Fichtenwälder windenden Forstweg über die Gotzental- und Seeau-Alm zu erreichen.
Auf dem einsamen Vorposten zu Füßen des Hagengebirges wachte im 19. Jahrhundert ein einsamer Jagdgehilfe im „Bürschhäusel“ – eben der Hofjagdhütte – bis weit in den Herbst hinein über die königlichen Forsten und Fluren, über das „edle Jagdwild“, also über Reh, Gams und Hirsch. Die Wach-Schicht dauerte jeweils eine Woche. Dem Wächter zum Trotz trieben sich in der unwegsamen Gegend jedoch immer wieder dunkle Gesellen herum, um sich ein „feines Braterl“ zu schießen.
Der seinerzeit beliebte Reiseschriftsteller Heinrich Noe hat die mysteriöse, ins Dunkel der Geschichte gehüllte Mordtat an den dort diensttuenden Jagdgehilfen Wildbüchler getreulich überliefert: „Eines Tages wurde ein junger Jäger hinaufgeschickt, um seinen Kameraden Klotz abzulösen. Der Klotz verließ die Hütte, bevor die Ablösung kam, weil ihm sein Vorrat an Lebensmitteln ausgegangen war. Zu gleicher Zeit, befanden sich auf der Gotzental- und Seeaualm, an welcher man vorüberkommt, wenn man von Kesselbach emporsteigt, verschiedene Forstleute und Jagdgehilfen, welche beabsichtigten, noch am Abend zur Regenalm hinüberzugehen, dort die Nacht zuzubringen und am Morgen auf die Pirsch zu gehen. Am Abend desselben Tages, auf dem der Wildbüchler auf der Regenalm eingetroffen sein sollte, machten sich diese bei eintretender Dunkelheit auf. Zwei Jagdgehilfen gingen voraus, die anderen folgten in geringer Entfernung.
Als diese beiden in die Felsgegend des „Regner-Klamml“ kamen, stieß der eine, ein gewisser Scherentanner, mit dem Fuße an einem Gegenstand auf dem Pfade. Da sich dieser weich anfühlte, so griff er in der Dunkelheit, indem er sich niederbeugte, mit der Hand danach, er geriet mit den Fingern in Haare und über ein Gesicht. „Herrgott, da liegt einer!“, rief er. Sofort steckte der andere einige Zündhölzchen an und bei dem Scheine derselben erkannten sie den Wildbüchler. Er lag auf dem Boden dahingestreckt, die Brust zeigte Blutflecken und eine Schusswunde. Der Kopf lag auf einem Steine, daneben Bergstecken und Gewehr, von welchem, wie es sich später zeigte, die beiden Läufe geladen waren. Neben ihm befand sich auch der Rucksack und über dem Gesicht lag zur Hälfte einer jener runden Jägerhüte, denen man wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem gleichnamigen Waldschwamm die Bezeichnung „Täublinghut“ gegeben hat. Sofort erklärte der Scherentanner, daß er von dem Leichnam nicht fortgehe, sondern die ganze Nacht bei ihm wachen und so lange bleiben wolle, bis die Herren vom Gericht zur Stelle wären. So geschah es auch. Der andere Jagdgehilfe stieg über die Kaunerwand hinab zum See, um Lärm zu machen, die beiden Förster aber gingen zur Regenalm hinauf.
Dort fanden sie im Pirschhäusl die Spuren eines eiligen Aufbruchs. Eine Schüssel stand da, noch halb voll Brennsuppe, und in einiger Entfernung lag der Löffel auf dem Tisch, wie in der Überraschung weggeworfen. Die erste Untersuchung gab folgende Aufklärungen: der herabsteigende Klotz war dem hinaufsteigenden Wildbüchler in der Nähe der Kauneralm begegnet. Später hatte ihn niemand mehr gesehen, wohl aber ein Holzknecht, der im Walde beschäftigt war, ungefähr eine Stunde nach diesem Zusammentreffen dreizehn Schüsse gehört. Seltsamerweise fiel der erste Verdacht auf den einen und anderen Jagdgehilfen selbst. Es mochte sein, daß einer von ihnen Wild veruntreut hatte und sich den Wildbüchler als einen unbequemen Zeugen oder Angeber vom Halse schaffte. Auch der Scherentanner, der die Nacht über bei ihm wachte, geriet in Beargwöhnung. Derselbe hatte nämlich die beiden geladenen Läufe abgeschossen, um, wie er sagte, irgendein Unglück, das bei dem Herumgreifen an dem Gewehre sich ereignen konnte, zu verhüten. Die Argwöhnischen legten es ihm aber so aus, daß es geschehen sei, um den Glauben entstehen zu lassen, als habe der Wildbüchler zuerst geschossen. Der Scherentanner war ein Trinker und hatte seinerzeit viele Zerwürfnisse mit dem Getöten gehabt. Es traten Zeugen auf, welche erhärteten, derselbe habe einmal im berauschten Zustande geäußert, er werde den Wildbüchler erschießen. Aber all dieses Gerede erwies sich als grundlos. Der Scherentanner wieß nach, daß er die ganze Zeit über sich weit von dem Schauplatz der Untat aufgehalten habe und eben sowenig konnte der Argwohn gegenüber den anderen bestehen. Die Leiche des Wildbüchler wurde von vier Holzknechten zum See hinabgetragen.“ Ende des Berichts – Aktenzeichen XY.
Wer also war der Täter? Mister X, einer der Jagdgehilfen, der Holzknecht, der Boazenbruder Scherentanner oder gar Wildbüchlers Kollege Klotz? Wen verdächtigen Sie? Ein echter „Cold Case“ auf jeden Fall. Eine Bluttat, die wenn auch fast vergessen, wohl nie aufgeklärt werden wird.
Dinesh Bauer
Sie mögen spannende Geschichten aus den bayerischen Bergen, mysteriöse Fälle, tiefgründige Rätsel. Dann lesen Sie doch einen meiner Alpen-Krimis wie „Bayerisches Roulette“, „Die Schwarze Jagd“ oder „Herrgottswasser“.