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Augenleiden, Eremit. Meditationsweg, heilige Quelle, Jakobsweg, Klause, Klausner, magischer Ort, Nüchternbrunn, Oberwarngau, Osterwarngau, Stationenweg, Taubenberg, Waldeinsamkeit, Wallfahrtskapelle, Wallfahrtsweg, Wandern, Wanderung, Weg ist das Ziel, wundertätige Quelle
„Der schlechteste Weg den man wählen kann, ist der keinen zu wählen.“ Obwohl vier Meter zur 900 Meter Höhenlinie fehlt, sind die zwei lang gestreckten Hügelrücken des Fent- und Taubenbergs der ideale Ort für eine meditative Waldwanderung. Hochalpines Flair und steile Felsenhöhen sucht man auf seinem Weg definitiv vergebens. Doch inmitten der Waldeinsamkeit gibt es einiges zu entdecken: die Ruhe, die Stille mit dem eignen Atem als einziges Geräusch neben dem melodiösen Gezwitscher der Vögel. Und wer seinem Weg ein Ziel abringen will, findet dieses in der Wallfahrtskappelle Nüchternbrunn. Ein Ort, der einem fast zur inneren Einkehr zwingt und in den meditativen Moment versinken lässt. Die kleine Lichtung inmitten von dichtem Wald hat etwas magisches, ja sieht ein wenig wie ein Tanzplatz von Feen oder ein Meeting Point für Anhänger heidnischer Hexen-Kulte aus.
Die Kapelle mit der Klause ist der Schmerzhaften Muttergottes geweiht – und liegt auf 802 Metern Höhe im inneren Waldbogen des Taubenbergs, der hier zum Farnbach hin steil abfällt. Das schattige Tal öffnet sich nach Osten zur Mangfall hin und spaltet den Bergrücken quasi in zwei Teile. Alljährlich am 15. September pilgern die Wallfahrer von Osterwarngau den Taferlweg hinauf nach Nüchternbrunn – zum Gedächtnis an die Schmerzen der heiligen Jungfrau. Die Kapelle selbst liegt an einem Quellhang. Das heiltätige Wasser sprudelt in ein schlichtes Tuffsteinbecken. Daneben befindet sich ein Emailschild, das Aufdruck: Kein Trinkwasser. Nüchternbrunn hieß früher Niederbrunn, weil oben am Hang weitere Quellen entspringen. Die kleinen Bäche und Rinnsale fließen unten im Talkessel zum Farnbach zusammen.
Von alters her gilt die Quelle als Elixier, um Augenleiden zu kurieren. Ums Jahr 1700 herum stand neben der Quelle eine Blockhütte, die als Klause diente. 1710 schrieb Präsidius Held, der Probst des Klosters Weyarn, einen Brief nach München – und bat darum an deren Stelle eine Kapelle und Klause aus Stein aufmauern zu dürfen. Die „Baugenehmigung“ wurde erteilt und ein hoher Beamter am bayerischen Hof, der aus Osterwarngau stammende Hofratssekretär Urban Höger, bezahlte die Rechnungen. Neben der bescheidenen Kapelle, bar jeglichen barocken Prunks, wurde ein winziges Hexenhäuschen für den „Dienst habenden“ Eremiten errichtet. Die Quelle wurde in einem Brunnenhaus gefasst, so dass der „Quell den fünf Wunden des Gekreuzigten entsprang.“ Mit der Fertigstellung des Baus, stieg die Zahl der Pilger diametral. Um 1770 wurde die Kapelle ein Raub der züngelnden Flammen. Die Bauern aus der Umgebung, allen voran Georg Hailer aus Schmidham, legten jedoch Heller und Taler zusammen und bauten ein neues Gotteshaus.
Ein Eremit zog in die neue Klause aber wohl erst um 1850 ein. Um diesen Dreh herum – wann genau, weiß keine Chronik zu berichten – wurde das Altarbild des Gekreuzigten durch eine Pietà ersetzt und die Kapelle der Schmerzhaften Muttergottes geweiht. 1913 erwarben Leopold und Maria Boxleitner aus Osterwarngau die Baulichkeiten. „Aus reiner Freude an der Wallfahrt“, steht im Kaufvertrag geschrieben. 1939 vermachte die Witwe Grund und Gebäude der Pfarrei. Doch schon 1940 brannte es in Nüchternbrunn erneut lichterloh. Der lahme Klausner Pirk konnte mit Müh und Not den Altar, die Pieta und sich selbst aus den hoch aufstiebenden Flammen retten. Die örtlichen Nazis sahen keinen Grund, eine Genehmigung für den Wiederaufbau zu erteilen. Ihnen schwebte eher eine germanische Ahnenkultstätte im heiligen Hain vor. Nach dem zweiten Weltkrieg taten sich die Bauern wiederum zusammen – und erricheten Kirche und Klause von neuem – ließen aber diesmal eine „Feuergasse“ zwischen Kapelle und „Wohnhaus“.
Oberhalb der Kapelle erinnert ein Kreuz an zwei der letzten Bewohner von Nüchternbrunn, an Frater Brettschneider, der 1947 und Michael Schöttl der 1961 verstarb. 1966 war endgültig Schluss. Der letzte Klausner hieß Friedl Binder und „verkaufte Guadl für ein Zehnerl“, wie sich ein Augenzeuge erinnert. Seitdem steht das Häuschen mit Plumpsklo und ohne Stromanschluss leer. Wer hier leben will, muss hart im nehmen sein. Und ohne Komfort und Strom aus der Streckdose auskommen. Die mit Schindeln gedeckte Kapelle bietet etwa 16 Personen Platz. Eignet sich also auch nur für Hochzeitszeremonien im kleinsten Rahmen. Immerhin: auf dem Westgiebel sitzt ein kleines Türmchen – samt Zwiebelhaube und Glocke. So wird Nüchternbrunn wohl noch für einige Zeit ein „hinterer Platz“ bleiben – der nachdem sich die letzten Wanderer und Biker verzogen haben, jeden Abend in einen tiefen Dornröschenschlaf fällt. Als ob es die moderne Netzwelt nicht gäbe. So mancher, der hier hoch kommt, fühlt sich so dem takt der Zeit entronnen. Und plötzlich ist das Flüstern des Waldes und die Stimmen des Himmels zu hören, viel eindringlicher als sonst irgendwo in der Hektik dieser Welt.
Dinesh Bauer
Was ich nicht verschweigen möchte. Nüchternbrunn war einer der Vorbilder für die einsam gelegene Wallfahrtskirche Sankt Nantovinus in meinem Alpen-Krimi „Der Che-Faktor“. Schaut rein – würde mich freun!