Schlagwörter
arme Leute, Armut in Bayern, Flößerei, Fuhrleute, Gütler, historische Geschichte, Historischer Rückblick, historisches Notizbuch, Isar, Isar-Loisachtal, kleine Welt, Kleinhäusler, Korbmacher, Loisach, Nantovinus, Nantwein, Puppling, Taglöhner, vergangene Zeit, Weidach, Wolfratshausen
Seit kurzem wird das alte Kfz-Kennzeichen „WOR“ wieder an die Stoßstangen geschraubt. WOR steht für Wolfratshausen. Seit der Gebietsreform Teil des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen. Im Kreißsaal der ehemaligen Kreisstadt bin ich geboren. Das Wohnhaus meiner Eltern – mithin meine erste Adresse – lag jedoch damals in Nantwein, einem Ortsteil der Gemeinde Weidach. Weidach hatte seine eigene Volksschule, in die ich – im eigentlichen Sinn des Wortes – jeden Morgen zwei Kilometer zu Fuß gegangen bin. Weidach war früher ein Flößer- und Kleinhäuslerdorf. Nantwein das „Glasscherben-„, das „Gratler-Viertel“ in dem Korbflechter, Bürstenbinder und Rastelmacher hausten. Um es genau zu sagen: Ghettos – mit deren Bewohnern, darunter auch Zigeunern und anderem „unehrlichen“ Gesindel, ein ehrbarer Wolfratshauser Bürgersmann nichts zu schaffen haben wollte. Diese proletarische Vergangenheit ist heute spurlos vom Vorstadt-Einerlei getilgt. Weidach und Nantwein sind zu gesichtslosen Siedlungen verkommen, wie es sie im „Speckgürtel“ Münchens zu Tausenden gibt. Austauschbare Reihenhäuser, Doppelhaushälften, dazu ein paar stattlichere Domizile mit mehr als nur einen Handtuchgarten hinterm Haus. Und die Stadt Wolfratshausen? Die hat immerhin einen S-Bahnhof, ist ansonsten jedoch auch nur ein an der Schaufensterscheibe der Metropole München klebender Fliegendreck. So weit die Standortbestimmung. Früher als ich ein Kind war, war das noch ganz anders. Da lag Wolfratshausen noch auf dem Land. Da war München weit weg, da fuhr nur ein Bummelzug in die „Stadt“, die in einer anderen mondänen Sphäre zu liegen und kaum größere Schnittmengen zu jener „kleinen Welt“ aufwies. Eine kleine Welt, die entfernte Ähnlichkeiten mit den Geschichten von Don Camillo und Peppone hatte. Die Gebharts, der Familien-Clan meiner Großmutter väterlicherseits, lebte hier bereits seit Generationen. Nach dem ausgeübten Beruf befragt, lautete die in Meldezetteln und Stammrollen aktenkundig gewordene Antwort in der Regel: Gütler. Eine Bezeichnung, die indes rein gar nichts mit einem „Gut“ zu tun hatte. Die Gebharts waren eine Sippe wie sie für die kargen, steinigen Böden in den Flussniederungen von Loisach und Isar typisch war. Der kiesige Untergrund gab für eine bäuerliche Existenz wenig mehr her als ein paar Kuhweiden und Kartoffeläcker. Für den Anbau von Getreide war der Grund nur bedingt tauglich. Da der Boden nur wenige Bauern nährte, blieb den gesellschaftlichen „Randgruppen“ nur eine Alternative: sie mussten mit und vom Fluss und seiner Aue leben, den murmelnden Stimmen der Kiesel im Flußbett lauschen. Armselige Existenzen, die kaum ihr „Auskommen“, kaum ihr täglich Brot fanden. Man stellte sich die Gesellschaft damals gern bildlich vor – als Rad, das die wirtschaftliche Entwicklung ins laufen brachte. Die Bürger, Brauer und Handwerker waren die Felgen, die Bauern die Nabe und die „armen Leut“ entsprachen den Speichen, die als Streben ins Rad gespannt waren, um dieses zu stabilisieren. Oder anders: Die Kalkbrenner, Taglöhner, Fuhrleute und Holzknechte bekamen den Druck von innen und außen ab, bekamen die größten Lasten aufgebürdet und erhielten dafür den geringsten Lohn. Immerhin war Ihnen, den Armen, das Himmelreich gewiss. Wenn die Familienclans der „lower class“ Glück hatten – und zu diesen Glücklichen zählten die Gebharts – verfügten Sie über etwas Besitz: Eine selbst zusammengezimmerte Behausung, zwei, drei Tagwerk Grund, einen Garten fürs Gemüse, ein paar dürre Obstbäume und das Recht heruntergefallene Zweige und Äste im Wald aufzuklauben. Einige Klafter Brennholz zum heizen und für den Herd. An tierischen Hausgenossen besaßen die Schicht der „Kleinhäusler“ ein paar Ziegen, Schafe und Hennen, dazu meist noch eine ausgemergelte Milchkuh, der etwas Milch aus den Zitzen tröpfelte, um eine vielköpfige Kinderschar zu versorgen. Die ganze Großfamilie lebte in zwei, drei Zimmern – unter einem niedrigen, rußigen Dach, beengt und auf das „notwendige“, was wenig genug war, beschränkt. So sah sie aus die kleine Welt der armen Leute, die nichts von Romantik und Idylle hatte, sondern nach trockenem Brot und saurer Milch schmeckte. Eine Ära der Armut, die so lang noch nicht vergangen ist, die ihre drahtigen, sehnigen Arme in die neue Zeit reckte und streckte. Wie schon für meinen Vater, waren auch für mich, die Auwälder mit ihren Weiden, birken und Kiefern entlang der Isar mein Revier. Hier wurde Räuber und Gendarm, hier wurde Cowboy und Indianer gespielt. Die Au ist ein unter Naturschutz stehendes Biotop, in dem seltene Pflanzen wie Schusternagerl und Frauenschuh wachsen – und sich die Kreuzottern durchs Gebüsch schlängeln. Ihren Namen bekam die Au von Puppling, eine Streusiedlung „enter da Isar“, sprich auf dem anderen, östlichen Ufer. Eine kleine Kirche mit winzigen Friedhof, drum herum ein paar wenige, teils im Wald versteckte Häuser. Und zwei Wirtshäuser, die jedoch erst mit den beginnenden Tourismus der Belle Epoque um die Jahrhundertwende ein Publikum fanden. Puppling selbst aber ist alt. Auf den höher gelegenen Abhängen hatten die ersten Siedler, die Bajuwaren und Bauern waren, ihre Holzpflöcke in die Erde getrieben und ihre Blockhütten gebaut. „Rechts der Isar“, wie mein Vater und meine Großmutter stets mit Nachdruck und auf Abstand bedacht betonten. In den Dörfern auf der anderen Seite lag eine andere, streng abgeschiedene Welt, die Welt der Bauernhöfe. Dort standen dicke Kühe und wohlgenährte Kälber im Stall, da grunzten die Säue im Koben, da trabten edle Rösser mit seidigen Schweif über fette Wiesen. „Drenta da Isar“ lag Weidach – und da war nur Armut, die Altwasserarme, da war Weidengebüsch, Föhrenwald und magere Wiesen, da war nur wenig zum leben. Meine Großmutter war eine echte Weidacherin – weder Bäuerin von „enter da Isar“, noch eine von den hochnäsigen Dirnen aus dem „Markt“, sondern die Tochter kleiner Leute. Der „Markt“, das war Wolfratshausen, das später zur Stadt wurde. Ein Ort der lange im Schatten der auf dem Hügel thronenden Burg lag. Die Wolfratshauser Grafen zogen mitten im Mittelalter in den Kreuzzug und kehrten nicht zurück. Danach hatten die Wittelsbacher und ihre Vögte und Pfleger auf der Burg das Sagen, die Bewohner des Ober- und Untermarkts hatten zu kuschen und parieren. Die langgestreckten Häuserzeilen duckten sich zwischen Hang und Loisach unter der Knute der Burgherrn. Sonst passierte hier wenig: ein Rompilger wurde ermordet und zum Märtyrer, es wurde Hektoliter um Hektoliter Bier gebraut und die Flöße zu Hunderten gebaut. Ein kleiner Markt am Fluss, eine Tagesreise zu Fuß südlich von München. Ja und Goethe machte in der „Alten Post“ Station. Ob es ihn zu ein paar Zeilen inspirierte? Stieg er auf den Hügel oberhalb der Stadt? Dort sind die schneebedeckten Berge plötzlich zum greifen nah und irgendwo in der diesigen Ferne dahinter liegt schon das Sehnsuchtsland des Südens. Und ein Hauch des „welschen Winds“ weht bis hierher…
Dinesh Bauer