Bald ist es soweit – am 12. Oktober erscheint mein Alpen-Krimi „Toter Winkel“ beim Aufbau Verlag. Ein klassischer Fall von Mord aus dem tiefen Süden Bayerns. Wo sonst werden Mistgabel und Holzpflock zu Mordinstrumenten umfunktioniert. Ein Bayern-Krimi wie aus dem Bilderbuch: weiß, blau und wild – und mit eben solchen Protagonisten auf der Bühne. Hier für euch exklusiv: eine Leseprobe aus dem Kapitel 4 „Nox est perpetua“. Viel Spaß beim schmökern wünscht euch euer Krimi-Krampus Dinesh Bauer.
In Kabul, Bagdad oder Johannesburg gehörte die Gewalt zum Alltag. Im Irak oder in Syrien juckte es niemanden, wenn ein Toter im Rinnstein lag – erschossen, erschlagen oder erstochen. Im Grenzgau waren solche Bluttaten hingegen eher selten. Folglich schien es nur logisch, dass sich die Nachricht vom Fund einer männlichen Leiche im Kreuzsteiner Forst wie ein Lauffeuer verbreiten würde. Doch noch zwölf Stunden nach dem Leichenfund hatte Polizeihauptmeister Georg Quirin Wammetsberger nicht den blassesten Schimmer, dass sein Schwager das„irdische“ mit dem „himmlischen Leben“ vertauscht hatte. Während sich Wammetsberger auf seinem unlängst beim Radl-Discounter „Velo-Bauer“ erstandenen ultraleichten Berg-Bike mit 24 Gängen abstrampelte, lag dessen Leichnam auf einem Stahltisch im Rechtsmedizinischen Institut und wartete darauf, fachgerecht seziert zu werden. Derweil der Onkel seiner Frau Elfriede den diesseitigen Dingen entrückt war, quälte sich Schorsch im Schweiße seines Angesichts den nicht enden wollenden Anstieg in den Brennbrucker Ortsteil Bad hinauf. Schweißüberströmt und mit puterrotem Gesicht erklomm Wammetsberger die Anhöhe und war gottfroh, dass es von nun an nur noch bergab ging.
Nach einer rasanten Abfahrt schoss der Pedalkünstler, der gut und gern seine zweihundertfünfzig Pfund auf die Goldwaage brachte, wie eine gesengte Sau ums Eck der Polizeiinspektion. Mit schrill quietschenden Reifen kam das feuerrote Veloziped vor dem Holzschuppen im Hinterhof zum Stehen. Schorsch stieg ächzend aus dem Sattel, nahm einen kräftigen Schluck Isostar-Plus aus der Pulle und wischte sich den dicken Schweißfilm von der Stirn. Er schob sein Radl in den Schuppen, kettete es an einen dicken Balken und tappte in den Aufenthaltsraum, wo etliche hohe Metallspinde Staub ansetzten. Er entledigte sich seines buntscheckigen Trikots, das ihn als Mitglied des russischen Radrennsport-Teams „Katjuscha“ auswies, hängte es an einen Kleiderhaken und schlüpfte in seine zerknitterte grün-beige Uniform mit den vier grünen Sternchen auf der Schulterklappe. Schorsch war notorischer Frühaufsteher und als solcher kein Freund der Nachtschicht. Des Nächtens auf Streife zu gehen war für ihn wider die Natur. Primaten und somit auch der Mensch waren, in evolutionärer Hinsicht, tagaktive Karnivoren. Als solche standen sie bei Sonnenaufgang auf der Matte, um zu jagen und zu sammeln. Nachts schliefen sie in ihrer Höhle oder oben im Geäst eines Urwaldriesen. Schon um nicht zur Beute eines Bären oder einer gefrässigen Raubkatze zu werden. So war das menschliche Wesen beschaffen, mochten auch Ausnahmen die Regel bestätigen. Von daher war es eine Zumutung, dass die Nachtschichten im Polizeidienst nicht etwa um ein oder zwei Uhr in der Früh endeten, sondern erst am nächsten Morgen um Punkt sieben. Das Problem an dieser der menschlichen Natur zuwider laufenden Regelung war, dass sich im morgendlichen Berufsverkehr regelmäßig schwere bis schwerste Unfälle mit Personenschäden ereigneten, die ein sofortiges Eingreifen seitens der diensthabenden Ordnungskräfte erforderten: ein blöd gekiffter Lieferwagenfahrer mit zwei Promille Restalkohol im Blut, der am Lenkrad wegdämmerte und sich um den nächstbesten Alleebaum wickelte, ein gestresster Manager auf dem Weg zum Team-Meeting, der mit Tempo 180 in die Rostlaube einer Studienreferendarin am örtlichen Gymnasium schlitterte, die sich mit der Sturheit einer Öko-Jüngerin an die geltende Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h hielt. Die Beispiele menschlicher Unvernunft und Unvermögens waren mannigfach. Und wer durfte in aller Früh ausrücken, die verkohlten Fahrzeuge inspizieren und das Unfallprotokoll tippen? Er, Schorsch Wammetsberger! Kurzum, der zu Korpulenz, bayerischer Behäbigkeit und Wortkargheit neigende Hauptmeister scheute die Nachtschichten wie ein Vampir die Sonnenstrahlen.
Schlurfenden Schritts betrat er die Diensträume der Inspektion. Er brummelte ein missmutiges „Servus Xarre“ und erkundigte sich bei seinem Kollegen, ob es tagsüber irgendwelche Vorkommnisse gegeben hatte: „Wie schaut’s aus? War was?“ Sein Untergebener Polizeiobermeister Franz Xaver Gschwandtner gähnte gelangweilt und hebelte sich aus dem Drehstuhl: „Nix! Ois as usual – wie die Amis sagen. Grad eben hat uns die Zentrale ein Eil-Rund-Fax geschickt – den Empfang hab ich schon quittiert. Die Kriminalpolizei fahndet nach einem dringend Tatverdächtigen. Höchste Prioritätsstufe – Top Priority quasi, wie es bei CSI heißt.“
Wammetsberger reagierte verstimmt – und mokierte sich sogleich: „Weshalb schicken uns die Bratwürste ein Fax? Warum rufen die nicht bei uns an oder lassen uns die Nachricht auf den Pager zukommen? Halten uns die Grattler da droben für Dorftrottel?“ „Die bei der Kripo sind prinzipiell alle superwichtig, verstehst?“, erwiderte sein „Vize“ unverblümt. „Es geht um ein Kapitalverbrechen, genauer gesagt um Mord. In der Fahndungsmeldung heißt es, dass Spaziergänger heute Vormittag eine Leiche im Kreuzsteiner Forst aufgefunden hätten. Ein schon älterer Mann, sechzig plus, mittelgroß, von schlanker, hagerer Statur.“ Gschwandtner drückte seinem Boss den Faxausdruck in die Hand, den dieser unschlüssig betrachtete. Das sah nach Ärger, vielmehr noch es sah nach Arbeit aus. „Schau dir die Fotos der Leiche an, Schorsch. Aufgespießt wie ein Brathendl oder einen Ochsen auf der Wies‘n – mal was anderes!“ Als Gschwandtner den verständnislosen Blick seines Vorgesetzten gewahr wurde, legte er noch eine Schippe drauf: „Mit der Mistgabel. Das ist doch mal innovativ, oder? Ein Gewalttäter, der in punkto Mordwaffe auf die guten alten bäuerlichen Traditionen hält. Für mich ist jetzt aber Schicht im Schacht. Ich hab mir meine Halbe verdient!“ Wammetsberger grunzte ungehalten. „Nix da, da bleibst! Diese Mordsgeschichte schauen wir uns genauer an. In jedem Fall stellen sich zwei grundsätzliche Fragen: Wer ist Opfer, wer ist Täter?“, dozierte der gewichtige Dorfbulle wie ein Kriminologe in einem Seminar für angehende Provinz-Profiler.
„So schaut’s aus die Maus!“ erwiderte Gschwandtner ohne rechte Begeisterung für die Mord-Materie. „In 95 Prozent der Fälle kannst du davon ausgehen, dass das Opfer seinen Mörder gekannt hat. Daraus resultiert, dass der Mörder so gut wie immer ein Bekannter und mitnichten der Gärtner ist.“ Falls er von seinem Adlatus einen konstruktiven Beitrag erwartet hatte, sah Wammetsberger sich bitterlich enttäuscht. „Aber bloß weil jemand einen kennt, bringt er ihn doch nicht gleich um“, wandte Gschwandtner mit bestechender Analytik und zwingender Logik ein. Das Präludium, um mehr oder weniger elegant auf ein neues Thema zu wechseln: „Im Prinzip kann es jeder gewesen sein – kann ja auch jeder in den Forst hinein! Sollen sich doch die Kasperlköpfe von der Kripo das Hirn zermartern, welche Spinner nachts mit der Mistgabel im Wald herum hupfen. Ich bin mit dem Ignaz im Roten Adler verabredet.“ Er sah seinem Chef auffordernd an: „Schaust nachher auf a Hoibe vorbei, Schorsch? Eine geht schon!“
Wammetsberger blickte ihn missbilligend an. Aus unerfindlichen Gründen mochte er diesen odrahten Bazi, förderte und protegierte ihn nach Kräften. Ja, seit Jahren mühte er sich, ihn zu seinem Nachfolger aufzubauen. Die legere Dienstauffassung seines jeglichen Ehrgeizes abholden Schützlings konterkarierte indes bislang seine Bemühungen – und trieb ihn ein ums andere mal zur Weißglut. Gschwandtner mangelte es an innerer Stärke und Charakterfestigkeit, an der mentalen Einstellung und am Durchhaltevermögen. Eigentlich haperte es an allen, aber Schorsch war keiner, der die Flinte von vornherein ins Korn warf. Wammetsberger war nie ein Ehrgeizling gewesen, der Karriere machen und auf der Leiter nach oben wollte. Im Regelfall schob er mit Vorliebe eine ruhige Kugel – und achtete strikt darauf, jeden unnötigen Ärgerzu vermeiden – und möglichen Komplikationen aus dem Weg zu gehen. Seine Vorgesetzten mochten ihn für einen behäbigen, phlegmatischen, etwas minderbemittelten Fettwanst halten. Sie täuschten sich jedoch gewaltig. Wenn es darauf ankam, war er einer, der sich durchbiss, der dran blieb und nie aufgab. Wenn er Blut geleckt und eine Fährte entdeckt hatte, dann ließ er wie ein Bullterrier nicht mehr locker, dann erwachte der Jäger, der Spürhund in ihm. Und dieser Mistgabel-Mord weckte seine Neugier. Jemand musste einen gehörigen Grant gegen das Opfer gehegt haben. Er hielt Gschwandtner das Fahndungs-Fax unter die Nase. „Weißt was ich jetzt mach? Ich nehme mir den Wisch hier vor. Es ist meine Sache, was ich zu meiner Sache mach! Geht das rein in dein Spatzenhirn?“ Gschwandtner stand verlegen lächelnd an der Tür und überlegte, ob er zu seiner Ehrenrettung etwas vorbringen sollte, machte aber dann, dass er verschwand. Er tippte sich kurz an die Schirmmütze: „Pfiati Schorsch! Wir sehen uns beim Wirt!“
Verächtlich schnaubend sank Wammetsberger auf den Lehnstuhl. „Eine Arbeitsmoral – zum Grausen!“ Dreiunddreißig Dienstjahre hatten ihn gelehrt, dass in der Ruhe die Kraft lag. So es in seinem Revier zu keinen gröberen Unfällen oder Vorfällen kam, ließ er es gemütlich angehen. Er dekorierte seinen Schreibtisch mit turmhohen Aktenstößen, als ob er vollends damit beschäftigt sei, den Berg von Anzeigen, Einvernahmen und Dienstanweisungen abzuarbeiten. Im Schubfach darunter hatte er allerdings ein paar halbe Dunkle und eine Flasche Obstler gebunkert. Statt sich also mit Lappalien und Routinekram abzuplagen, ließ er sich lieber seine Brotzeit und sein Bier schmecken. Wenn immer es ging, überließ er es den strebsamen Jungbullen sich mit randalierenden Pickelgesichtern, Rocker-Rowdys und rumänischen Romas herumzuschlagen. Da er dreiundfünfzig, verheiratet und mit einem fein verästelten Netzwerk von Freunden und Spezln gesegnet war, war er als Beamter auf Lebenszeit so gut wie unantastbar und genoss Narrenfreiheit. Diese privilegierte Stellung gestattete es ihm, die PDV, die Polizeidienstvorschrift, nach eigenem Ermessen auszulegen und sich einige Freiheiten herauszunehmen. Sprich: Wammetsberger sorgte dafür, dass er in den Genuss gewisser Vergünstigungen und Annehmlichkeiten kam und sich keinen Haxen ausriss. So ignorierte er auch jetzt das penetrante Gepiepe und Gegurre des PCs. Er hatte neue Mails im Eingangsfach – na und? Der Lockruf der Silikon-Sirenen ließ ihn kalt. Was nutzte ein Tablet, Smartphone oder ein anderes IT-Utensil, wenn der Akku leer war oder jemand den Stecker zog? Nix! Nein, die digitale Welt war die seine nicht. Diese gestörten Gestalten, die unentwegt auf ihre Displays starrten, litten seiner Ansicht nach an einer autistischen Degeneration beider Hirnhälften. In ihren Eierköpfen lief eine Asperger-App. Hinter ihrer Google-Brille nahmen sie die wahre Welt nur noch durch einen Grauschleier wahr – und auch nur die Mosaiksteinchen, die in ihr verqueres Weltbild passten. Schorsch war kein Anhänger von Verschwörungstheorien, doch er war überzeugt, dass die Zombies dereinst nicht aus Kellerverschlägen, sondern aus den Kabelschächten hervorkrochen. Im Web wimmelte es nur so von hochgradig ansteckenden Erregern, von Würmern und Trojanern, die das Hirn befielen und irreparabel schädigten. Eine Seuche, die sich in rasender Geschwindigkeit ausgebreitet und die Ausmaße einer globalen Pandemie angenommen hatte. Doch gegen den Virus 2.0 war er immun. Schorsch musste sich allerdings eingestehen, dass die diversen Datenbanken der Polizeibehörden, aber auch Google & Co. eine wahre Fundgrube waren, um Fakten zu sammeln, die Hintergründe zu recherchieren und Fallprofile zu erstellen. Zu irgendwas mussten diese Scheißdinger ja auch taugen, dachte er gehässig.
Buchstabe für Buchstabe hämmerte er sein Passwort „Elfriede0709“ – Name und Geburtstag seiner „Holden“ – in die Tastatur und suchte gleichzeitig mit der anderen Hand die ellenlangen Fahnen des dünnen Faxpapiers zu bändigen. Mit halbem Auge sah er, wie sich die Schwarzweiß-Fotografie des Toten unter der Berührung seiner Finger wirr wellte und nur bruchstückhafte Teilpartien des Gesichts – Wangen, Mund, Stirn – zum Vorschein kamen. Nach heldenhaftem, aber vergeblichem Kampf hatte sich Schorsch heillos in den Papierbahnen verheddert. Fluchend suchte er in dem Wust nach Angaben zur Person des Opfers. „So ein Scheißdreck, so ein geschissener! Irgendwo muss doch stehen wie …“ Da schrillte das Telefon – wie immer im unpassendsten Moment.
„Toter Winkel“ Copyright 2015 Dinesh Bauer
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